127 Hours
Neben Black Swan gehört 127 Hours mit Abstand zu jenen intensiven Filmen, welche mich in diesem noch sehr jungen Kinojahr 2011 total begeistert haben. Vielleicht gehört 127 Hours sogar zu den Filmen, welche ich nie in meinem Leben wieder vergessen werde, wo sich einzelne Aufnahmen und Momente tief ins Gedächtnis gebrannt haben. Schauder, Ekel, Ehrfurcht vor dem Leben und die Faszination eines grauenvollen Einzelschicksals, welches wohl kein Mensch dieser Welt am eigenen Körper erfahren möchte, 127 Hours gehört definitiv zu den ganz großer Kalibern dieses Jahres.
Aber keinen interessiert es. Verdammt schade um diesen tollen Film. Natürlich läuft 127 Hours in vielen Kinos, doch wenn zeitgleich Publikumsmagneten wie Black Swan, The King’s Speech oder True Grit über das Gros der deutschen Kinoleinwänden flimmern, tut sich ein, betrachtet man die Konkurrenz, vergleichweise relativ günstig produzierter Film wie 127 Hours schwer. Ein klassischer Außenseiter, sowohl im Kino als auch wenn es darum geht, internationale Filmpreise einzuheimsen. 127 Hours wurde in der Oscarkategorie Bester Film nominiert und das war schon Auszeichnung genug für den Film des Regisseurs Danny Boyle wieder einmal in einer Reihe mit den ganz Großen genannt zu werden, nicht mehr und nicht weniger. Denn mit einem Oscar für 127 Hours hatte ganz ehrlich niemand gerechnet. Unverdient wäre es bestimmt nicht gewesen, wäre da nicht mal wieder die überaus starke Konkurrenz gewesen…
Generell machten es sich Boyle und Kollegen bei ihrem Film 127 Hours nicht leicht. Immerhin thematisierte man in diesem Film eine natürliche Angst des Menschen. Irgendwo im Nirgendwo, festgeklemmt unter einem Felsbrocken, kein Telefon, niemand nur in der entferntesten Nähe. Du bist komplett auf dich allein gestellt, kommst nicht von der Stelle, im Minutentakt schwindet deine Hoffnung auf Rettung und man ist verdammt qualvoll die wohlmöglichen letzten Stunden vor dem Ertrinken und Verhungern vor sich hinzufristen. Ein ähnlicher Umstand wie der, lebendig begraben zu werden (Wir erinnern uns an Buried). Hinzukommt der Punkt, dass die wohl einzige Möglichkeit sein Leben zu retten darin besteht, sich den eingeklemmten Arm selbst abzutrennen. Spätestens an dieser Stelle fängt man an zu schlucken.
Und wenn sich nun geneigte Kinogänger derartig über einen Film wie 127 Hours informieren, bekommen viele von denen schnell die Flatter. Harter Tobak, besonders, weil 127 Hours überhaupt nicht mit überaus intensiven Bildern geizt, welche dem Betrachter tief durch Mark und Bein gehen. Ein weiterer Aspekt, weshalb 127 Hours mit vergleichsweise niedrigen Zuschauerzahlen wegkommt. Nichtsdestotrotz lohnt ein Kinobesuch. Ich wollte den Film unbedingt sehen, obwohl ich mir der Tatsache bewusst war, dass dieser Streifen nicht leicht zu ertragen sein wird. Doch es hatte sich verdammt nochmal sowas von gelohnt.
Bevor es mit der eigentlichen Kritik weitergeht wie immer kurz etwas zum Inhalt:
Es gibt ja so einige abgedrehte Menschen in unserer Welt. Die einen sammeln Briefmarken oder tolle bunte Schlüsselanhänger, andere bemalen Gartenzwerge. Und dann gibt’s noch diese verrückten Extremsportler, immer am Limit, ständig auf der Suche nach neuen Herausforderungen. Ob mit dem Mountainbike oder zu Fuß, ob in eisig kalten, schwindelerregenden Höhen oder in staubtrockenen, steppenähnlichen und steinigen Landstrichen, dort wo die Gefahr, pardon, die Freiheit ruft, da ist auch der gemeine Extremsportler nicht weit entfernt.
Zu diesen Extremsportlern zählt sich auch Aron Ralston (James Franco), wohnhaft in Indianapolis und seineszeichens von Beruf her Ingeneur bei Intel. Doch wirklich wohl fühlt er sich nur in dem felsigen Umland des Canyonlands-Nationalpark im amerikanischen Bundesstaat Utah. Ralston hätte sich wohl wie viele andere auch den riskanten Freizeitbeschäftigungen des Briefmarkensammelns oder des feierlichen Aktes der Bemalung von kleinwüchsigen Zipfelmützenträgern widmen können. Doch er liebt seinen verklüfteten Canyon über alles, jeden Winkel, jede Ecke, jede Kante, jede Spalte weiß er zu schätzen. Ob er nun mit dem Rad durch die Pampa heizt oder zu Fuß quer Feld ein durch schmale Schluchten kraxelt, für Aron Ralston gibt es wohl keinen schöneren Ort als diesen.
Natürlich packt Ralston wöchentlich die Lust, seinen Canyon zu besuchen, um dort einige wunderbare Stunden zu vollbringen. Doch an jenem verhängnisvollen Tag, an welchem er sich wieder einmal mit bester Laune Richtung Blue John Canyon aufmacht, begeht Ralston einen folgenschweren Fehler. Eigentlich weiß immer irgendjemand aus Ralstons direkten Umfeld, sei es die Familie oder jemand aus seinem Freundeskreis, wo sich Aron wann ungefähr befindet und was er gerade treibt. Doch dieses Mal macht sich der lässige Lebemann los ohne dass jemand nur ansatzweise wüsste, wo genau er die nächsten paar Stunden sein wird, was er gerade macht oder ob er sich überhaupt wie sooft im Umland des Canyonlands befindet.
Aber bis jetzt ist ja noch nie was passiert, der erfahrene und selbstsichere Extremsportler kennt den Blue John wie sein Westentasche, warum sollte er sich über eventuelle Vorfälle oder Geschehnisse, welche ihm zustoßen könnten, irgendwelche Gedanken machen. Im Canyon angekommen ist Aron wieder einmal voll in seinem Element. Eifrig dokumentiert er seinen Ausflug mit Hilfe einer kleinen Handkamera. Ein tolles Geschenk ist das gewesen, da haben seine Eltern voll ins Schwarze getroffen. Bei seinen üblichen Streifzügen durch felsige Steppe trifft der selbstbewusste Strahlemann dann sogar unerwartet auf zwei junge Damen (Kate Mara und Amber Tamblyn), welche sich ebenfalls einen Weg durch Weiten des Good Old Blue John bahnen wollen. Aaron ist selbstverständlich ein alter Hase, schlägt den beiden eine Abkürzung vor und entführt zu seiner im wahrsten Sinne des Wortes coolen Grotte, wo man sich bei der unangenehmen Hitze Utahs herrlich erfrischen kann. Die Mädels sind von Aron und seiner Lässigkeit schwer beeindruckt und laden ihn daraufhin am Abend zu einer Party ein. Hört sich für Aron ganz gut an, er freut sich auf das baldige Wiedersehen, verabschiedet sich und führt seinen einsamen Weg durch diverse Spalten und über unzählige Felsen fort.
Ach, diese Canyonlands sind schon toll. Ralston schwingt sich wahrlich über die Felsbrocken, hechtet von Kante zu Kante und erklimmt einen Vorsprung nach dem anderen. Doch dann passiert das, was eigentlich nicht passieren sollte, in den Augen Arons vermutlich nicht einmal passieren dürfte. Bei einer seiner gewöhnlichen Kletteraktionen rutscht Ralston ab, der Fels, an welchem er sich gerade noch festhielt setzt sich in Bewegung, ein stützender Ast zerbricht, Ralston fällt in eine schmale Spalte, landet dort zwar auf beiden Füßen, doch zugleich wird sein rechter Arm von dem hinabfallenden Felsbrocken an einer Gesteinswand fest- und eingeklemmt. Und auf einmal herrscht absolute Stille.
Ralston registriert, in welch großem Schlamassel er sich befindet. Seinen verzweifelten Hilferufen bringen ihnen nicht weiter, wer soll ihn denn in den Unweiten des riesigen Canyonlands auch hören. Hinzukommt sein unvorteilhafte Position, festsitzend in einer der unzähligen Spalten der felsigen Landschaft. Einzig Ralston starke Psyche vermag ihm jetzt zur Seite zu stehen. Doch wie lange? Es geht nicht vor und nicht zurück, die Chancen seinen Arm und sich aus dieser misslichen Lage zu befreien stehen bei Null. Aaron Ralston steht ein schreckliches Leiden bevor, ob es sich nun um die Problematik seines schwindenden Wasservorrates oder wohl noch um dessen immer schwächer werdenden geistigen Zustand in Anbetracht der zermürbend geringe Aussicht auf Rettung handelnd, hier hilft wohl nur noch ein Wunder…
Jeder, auch wenn man den Film nicht gesehen oder das Buch zu dieser atemraubenden Geschichte gelesen hat weiß, dass sich jener Aron Ralston eigenständig den rechten Arm abtrennte, um sich aus dieser lebensbedrohlichen Lage zu befreien. Das muss man sich mal vorstellen, 127 Hours basiert auf einem Buch, welches von einer wahren Begebenheit berichtet, wo sich alles um das tragische Schicksal des Extremsportlers Aron Ralston und ein für ihn einschneidendes Erlebnis seines Lebens dreht. Dieser Kerl hat sich selbst den Arm abgetrennt, um zu leben. Nüchtern betrachtet die einzig logische Option in einer derartigen Situation. Aber so einen Umstand kann man nicht nüchtern betrachten. Verdammt, sich selbst den Arm absäbeln, auch wenn es die einzige Möglichkeit ist, dein Leben zu retten? Das erfordert unmenschlich viel Mut und ist sinnbildlich für den unbedingten Lebenswillen, den ein Mensch entwickeln kann. Meinen allerhöchsten Respekt vor Aron Ralston.
Dass eine dermaßen tragische, intensive Geschichte andere Menschen interessiert und bewegt, und sich ebenfalls in Form eines Buches sehr gut verkauft, ist nicht verwunderlich. Das Buch Between a Rock and a Hard Place ist ein Bestseller, die Verfilmung dessen war naheliegend, auch wenn sich die Macher durchaus der schweren Aufgabe einer gelungener Umsetzung bewusst waren. Doch das Ergebnis kann sich definitv sehen lassen, für mich ein unvergesslicher Film.
Man bekommt eine beeindruckende One-Man-Show zu sehen, James Franco verkörpert den zielstrebigen Aron Ralston und präsentiert sich fabelhaft. Schwer, eine derartige schauspielerische Leistung auseinanderzunehmen und im Einzelnen zu bewerten. James Franco spielt einfach überragend, seien es die Momente der puren Lebensfreude, die Lockerheit des jungen Extremsportlers, oder eben auch sein qualvolles Leiden, sein psychischen Kollaps und die pure Verzweiflung.
127 Hours ist ein tragisches Kammerspiel, in welchem James Franco, von welchem ich schon lange überzeugt gewesen bin , endlich mal zeigen konnte, was er auf dem Kasten hat. Eine beispielhafte Charakterstudie, Franco aka Ralston wird zum Sinnbild des menschlichen Überlebenswillens, er wandelt sich vom grinsenden und lebenslustigen Menschen der Extreme zu einem äußerst labilen und total verzweifelten Häufchen Elend. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt als Ralston die schwere Entscheidung fällt, die einzige Möglichkeit aus dieser Bedroullie zu entkommen umsetzen und sich eigenhändig den eingeklemmten Arm abtrennt. Hier zeigt sich die charakterliche Stärke der Figur und auch diese weiß Franco mehr als überzeugend wiederzugeben. Die Nominierung für den Oscar als bester Hauptdarsteller ist für mich absolut nachvollziehbar gewesen.
Wenn man erste Kritiken oder Reviews zu 127 Hours liest, dann erwartet man schon vorweg ein sehr bedrückendes, beklemmendes Filmerlebnis. Als ich im Kino saß wusste ich, dass bald doch die Szene kommen wird, in welcher sich Aron Ralston den Arm eingeklemmt und das eigentliche Drama erst beginnt. Doch wenn man dann diesen Menschen in dieser Lage sieht, ihn bei seinen verzweifelten Versuchen sich zu befreien beobachtet, wie er sich selbst Mut und Zuversicht zuredet, sich an die einzigartig schönen Momente seines Lebens erinnert und seine eigentliche Träume vor seinen eigenen Augen Revue passierten lässt, dann leidet man nicht nur mit ihm mit, man wünscht ihm, dass er es irgendwie aus dieser Situation wieder rausschafft.
Regisseur Danny Boyle (Slumdog Millionaire) hat hier etwas Einzigartiges abgeliefert, präsentiert uns eine tragische Geschichte auf eine unheimlich intensive Art und Wiese und formuliert eine Botschaft, nie den Glauben an die eigene Stärke zu verlieren. Natürlich spielt im hierbei die Tatsache der wahren Begebenheit und die enge Zusammenarbeit mit Aron Ralston persönlich in die Hände. Das Ergebnis ist wirklich sehenswert und klasse. Ebenso glänzt Boyle mit tollen Ideen, wenn es um Ablauf der Szenen und den Schnitt geht. Zusammen mit einem sehr gelungenen Soundtrack werden wunderbare Bilder gezeigt, sei es nun die zusammengeschnittene Anfangssequenz oder eben die beeindruckende Kulisse des Cayonlands-Nationalpark in Utah. Selbst das klischeebehaftete Ende passt wie die Faust auf's Auge, sentimentalveranlagte Kinogänger drücken hier vielleicht sogar die ein oder andere Träne weg.
Ganz links: James Franco. In der Mitte, 4.v.l.: Regisseur Danny Boyle.
Ganz rechts: Extremsportler Aron Ralston
Ehrlich zugegeben, ich bin ein große Fan von 127 Hours (merkt man kaum oder?). Besser gesagt, ich wurde zu einem. Im Vorfeld hatte ich mich kaum mit dem Film beschäftigt. Und als ich im Kino saß, hatte ich arg zu kämpfen, der Film ist wirklich nichts für leichte Gemüter. Unverblümt und blutig, anders hätte man es auch gar nicht realistisch und intensiv genug darstellen können. Es musste über die Stränge geschlagen werden. In vielen Szenen musste ich mich zusammenreißen und schob kurzzeitig die Brille etwas tiefer. Trotzdem bleibt der einmalige Eindruck dieses Film so nachhaltig, dass ich mich persönlich wohl auch immer an 127 Hours und seinen Effekt erinnern werde.
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Fazit
Warum schauen bzw. haben sich so wenig deutsche Kinogänger 127 Hours angeschaut? Liegt's an der Hemmschwelle? Ekel? Zu besonders, zu anstrengend? Es kostet Überwindung sich 127 Hours anzusehen. Und mit Sicherheit werde ich mir die DVD zu diesem Film holen, auch wenn ich mir dessen bewusst bin, kaum in der Lage zu sein, den Film einzulegen und ihn nochmal anzuschauen. In vieler Leute Augen hat es Danny Boyle mit 127 Hours wohl übertrieben. Ich bin der Meinung, dass gerade diese augenscheinliche Übertreibung den Film erst ausmacht. So und nicht anders ist es dem realen Aron Ralston ergangen und nur so kann man dessen Leiden und Emotionen auch nachvollziehen. Ich empfehle 127 Hours auf jeden Fall, doch bin ich mir durchaus im Klaren, dass viele ihn sich nicht anschauen werden, weil er die Grenzen überschreitet. Ein besonderes Filmerlebnis, zu welchem man sich durchringen muss, um für sich selbst zu wissen, ob 127 Hours etwas für einen ist. Vielleicht ist man danach zutiefst angewiedert und schockiert. Vielleicht muss man 127 Hours dann ersteinmal ein Weilchen sacken lassen und tief durchatmen. Und vielleicht ist man dann an einem gewissen Punkt auch ähnlich begeistert wie ich es bin.
Wertung:
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